Freitag, 8. November 2013

text /// Der alte Trinker.


Und dann schlägt er mit der Hand auf den Tisch - „Dit hätt's früher nich jejeben“ – und nimmt einen ordentlichen Schluck Bier. Das Radeberger-Emblem auf der Tulpe vor ihm hat mehr Jahre hinter sich als ich und glänzt verwaschen-milchig im monotonen Flackern der Dartscheibe. Der Kneiper am anderen Ende des Tresens nickt wohlwollend und schenkt uns die nächste Runde Korn ein. Mir brennen die Augen. Die warme Luft ist dick wie Omas Oberarme und lässt sich wie eben jene per Handstreich von einer Richtung in die andere schieben. Korn wird hier lauwarm serviert. Wie früher. Und schmeckt immer noch beschissen.
„Ik in deim Alter hatte Frau und Abeit“, sinniert er über die alte Zeit und fügt hastig das unausweichliche Thema hinzu: „Und ik war beim Bund, inna Armee.“ Mit glasigen Augen und zittrigen Händen steckt er sich eine Zigarette zwischen die spröden Lippen.

„Aber wat erzähl ick dit eim wie dir. Du bist ja noch mehr Junge wie Mann. Dieset ma hier ma da abeiten, überall ma kieken wat man werden könnte. Schlimm is dit. Selbstständischkeit? Bei mir jabs sowat nich. Ick bin irjendwann aus der Schule rausjekommen und hab mich uffn eigenen Arsch jesetzt. Jeden Tach war ick von sechs bis sechs inne Abeit. Nüscht mit Mutti und Vatti die einem noch schick dit Studium jezahlt haben und wo dit allet lief bis ick fünfunddreißig war. Da haste dich umjekiekt wenn de mit siebzehn nich Vatter warst und trotzdem kieken musstest wo de bleibst.“ Beherzt greift er zum Bier, hält inne und hebt erhaben und prophetisch die Augenbrauen: „Kieken mussteste. Muss ik immer noch.“ Er nickt und bestätigt seine Aussage, die Augen aufgerissen aber kraftlos. „Ick konnte doch nüscht wie Mathe. Ick will dit nich mehr.“ Ich nicke und bestätige meinen Blutalkohol. Kraftlos.

Und für ein paar Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander. Schlürfen leise das 0,3er-Pils vom Fass aus kalkbefleckten Tulpen, streifen abwechselnd blassrote Glut in den Alu-Aschenbecher und zählen, jeder für sich, die Schnapsflaschen im Regal vor uns. Bei dreiundvierzig mach ich Schluss. Der Abend war lang. Ich leere mein schales Bier und zahle die letzte Runde warmen Korn. Die Trinkerbrigade dankt es mir mit erhobenen Schnapsgläsern und fahlen Blicken Richtung Spiegelwand. Doch alle sehen im Moment des letzten Zuprostens zufrieden aus. Es ist die ehrliche Zuneigung der Säufer – Dankbarkeit und Güte in ihren Augen, die einem den Abschied erschweren und zum Bleiben lieblichste Blicke aufzusetzen scheinen. Doch hier bleiben kann ich nicht. Er bleibt.

Und träge streife ich mir die Jacke über die hängenden Schultern. Abschiedsworte floskeln aus mir heraus. Er bleibt regungslos neben mir sitzen. Kein Wort. Kein Blick. Wie ein getretener doch stolzer Hund, der sich seinen Schmerz nicht anmerken lassen will und stoisch verharrt, bis der prügelnde Herr die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, sitzt er auf dem hölzernen Barhocker und starrt durch den Spiegel in seine eigenen, leeren und kalten Augen.

„Dit sind einundfünfzich“, murmelt er als ich bereits den Türknauf in der Hand habe. „Einundfünfzich verschiedene Flaschen puret reinet Trinkerglück“, ergänzt er und lässt die Hände in den Schoß sinken. Zusammengefallen sitzt er am Tresen und senkt den Kopf in die Brust, atmet zitternd und offenbart die ganze Verlorenheit, die ihm Tag für Tag die Beine schwerer werden und den Willen schwinden lässt. Die Tür schließt hinter mir und entlässt mich in den kalten Dunst der Nacht.

Und so verabschiede ich mich jeden Abend vom alten Trinker.
Rauchend gehe ich die Straße hinunter zu meinem Haus. Und ich lege mich ins Bett zu meiner Frau, die schon lange nicht mehr da ist. Blicke blinzelnd auf das Foto meiner Kinder, die nie anrufen. 
Und ich denke an den alten Trinker, den ich zurück gelassen habe. In der Kneipe. Jeden Abend. Seit Jahren. Um zu trinken.


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