Und dann schlägt er mit der Hand auf
den Tisch - „Dit hätt's früher nich jejeben“ – und nimmt
einen ordentlichen Schluck Bier. Das Radeberger-Emblem auf der Tulpe
vor ihm hat mehr Jahre hinter sich als ich und glänzt
verwaschen-milchig im monotonen Flackern der Dartscheibe. Der Kneiper
am anderen Ende des Tresens nickt wohlwollend und schenkt uns die
nächste Runde Korn ein. Mir brennen die Augen. Die warme Luft ist
dick wie Omas Oberarme und lässt sich wie eben jene per Handstreich
von einer Richtung in die andere schieben. Korn wird hier lauwarm
serviert. Wie früher. Und schmeckt immer noch beschissen.
„Ik in deim Alter hatte Frau und
Abeit“, sinniert er über die alte Zeit und fügt hastig das
unausweichliche Thema hinzu: „Und ik war beim Bund, inna Armee.“
Mit glasigen Augen und zittrigen Händen steckt er sich eine
Zigarette zwischen die spröden Lippen.
„Aber wat erzähl ick dit eim wie
dir. Du bist ja noch mehr Junge wie Mann. Dieset ma hier ma da
abeiten, überall ma kieken wat man werden könnte. Schlimm is dit.
Selbstständischkeit? Bei mir jabs sowat nich. Ick bin irjendwann aus
der Schule rausjekommen und hab mich uffn eigenen Arsch jesetzt.
Jeden Tach war ick von sechs bis sechs inne Abeit. Nüscht mit Mutti
und Vatti die einem noch schick dit Studium jezahlt haben und wo dit
allet lief bis ick fünfunddreißig war. Da haste dich umjekiekt wenn
de mit siebzehn nich Vatter warst und trotzdem kieken musstest wo de
bleibst.“ Beherzt greift er zum Bier, hält inne und hebt erhaben
und prophetisch die Augenbrauen: „Kieken mussteste. Muss ik immer
noch.“ Er nickt und bestätigt seine Aussage, die Augen aufgerissen
aber kraftlos. „Ick konnte doch nüscht wie Mathe. Ick will dit
nich mehr.“ Ich nicke und bestätige meinen Blutalkohol. Kraftlos.
Und für ein paar Minuten sitzen wir
schweigend nebeneinander. Schlürfen leise das 0,3er-Pils vom Fass
aus kalkbefleckten Tulpen, streifen abwechselnd blassrote Glut in den
Alu-Aschenbecher und zählen, jeder für sich, die Schnapsflaschen im
Regal vor uns. Bei dreiundvierzig mach ich Schluss. Der Abend war
lang. Ich leere mein schales Bier und zahle die letzte Runde warmen
Korn. Die Trinkerbrigade dankt es mir mit erhobenen Schnapsgläsern
und fahlen Blicken Richtung Spiegelwand. Doch alle sehen im Moment
des letzten Zuprostens zufrieden aus. Es ist die ehrliche Zuneigung
der Säufer – Dankbarkeit und Güte in ihren Augen, die einem den
Abschied erschweren und zum Bleiben lieblichste Blicke aufzusetzen
scheinen. Doch hier bleiben kann ich nicht. Er bleibt.
Und träge streife ich mir die Jacke
über die hängenden Schultern. Abschiedsworte floskeln aus mir
heraus. Er bleibt regungslos neben mir sitzen. Kein Wort. Kein Blick.
Wie ein getretener doch stolzer Hund, der sich seinen Schmerz nicht
anmerken lassen will und stoisch verharrt, bis der prügelnde Herr
die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, sitzt er auf dem
hölzernen Barhocker und starrt durch den Spiegel in seine eigenen,
leeren und kalten Augen.
„Dit sind einundfünfzich“, murmelt
er als ich bereits den Türknauf in der Hand habe. „Einundfünfzich
verschiedene Flaschen puret reinet Trinkerglück“, ergänzt er und
lässt die Hände in den Schoß sinken. Zusammengefallen sitzt er am
Tresen und senkt den Kopf in die Brust, atmet zitternd und offenbart
die ganze Verlorenheit, die ihm Tag für Tag die Beine schwerer
werden und den Willen schwinden lässt. Die Tür schließt hinter mir
und entlässt mich in den kalten Dunst der Nacht.
Und so verabschiede ich mich jeden
Abend vom alten Trinker.
Rauchend gehe ich die Straße hinunter
zu meinem Haus. Und ich lege mich ins Bett zu meiner Frau, die schon
lange nicht mehr da ist. Blicke blinzelnd auf das Foto meiner Kinder,
die nie anrufen.
Und ich denke an den alten Trinker, den ich zurück
gelassen habe. In der Kneipe. Jeden Abend. Seit Jahren. Um zu
trinken.
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