Mittwoch, 26. Juni 2013

text /// Zu viel verpasst.


Ich spüre keinen Schmerz, doch ich weiß, dass er da ist. Und mit ihm kommt die Müdigkeit und verspricht mir bittersüße Erlösung und Frieden.
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Das Geschirr stapelt sich immer noch. Nur das Spülmittel ist ein anderes. Alles scheint deplatziert und wirr, doch die Staubflusen am Boden verraten den anhaltenden Stillstand meiner Welt, verraten die zu Stein gewordene Leblosigkeit meiner Wohnung, meines Lebens. Auf allem liegt der Schleier der Belanglosigkeit. Die Briefe auf dem Tisch könnten noch nach Frühling riechen, tief in ihrem ungeöffneten Innern. Die Blumen auf dem Fensterbrett sind längst nur noch kahlbraune Gerippe, vernachlässigte Zeugen einer vorgestrigen Sonnendekade. Alles vergangen. Alles alt. Und doch so fern vertraut. Wie eine Erinnerung an Nächte unter Stroboskopen und wummernden Bässen, die unverhofft kommt und bleiern an mir haftet. Mit fadem Beigeschmack brennt heißer Dampf in meinen Lungenflügeln – verlogen glimmt blassorange die Glut zwischen meinen Fingern und knistert leise zum beständigen Klopfen des Regens. Mit meinen Lippen forme ich stumm Wörter. Wortfetzen. Gebilde. Gedanken. Zu feige ihnen laut Raum zu geben. 'Wo war ich?'
Mein Kopf erträgt sich nicht mehr. Meine Füße tragen mich nicht. Zentnerschwer liegt das Vergangene auf meinen Sehnen und brennt sich sekündlich tiefer in meine Zellen und Synapsen – lähmt sie, blendet sie, schnürt sie ein. Betäubt versacke ich am Küchentisch und hoffe meinen Geist mit einem Glas braunem Gold zu leeren. Ein Himmelfahrtskommando der Seele, sicherlich. Doch Alternativen scheinen so fern. 'In was für einer Welt leben wir eigentlich?' titelt die Zeitung vor mir, vergilbt durch das Sonnenlicht der letzten Wochen. Ich proste der Kompanie von Buchstaben widerwillig zu und trinke brav aus. 'Treu bleiben, wenigstens mir selbst', denke ich.


Verstohlen wische ich mit dem Zeigefinger durch die Fülle an Briefen und Wurfsendungen vor mir. Sprödes Papier raschelt. Zu viel um alles zu lesen. Zu viel – alles. Kopfschmerz ist mein taubstummer Begleiter und gesellt sich wie gewohnt zu mir. Knisternd zerfrisst er mich. Permanent und präzise. Ich spüre keinen Schmerz, doch ich weiß, dass er da ist. Und mit ihm kommt die Müdigkeit und verspricht mir bittersüße Erlösung und Frieden. Zumindest auf Zeit.


Mein Blick schweift durch das Labyrinth aus Absendern und Poststempeln. Bleibt hängen, bleibt fokussiert, bleibt für einen Moment an deinem Namen kleben und bedeutet für einen langen Augenblick Stillstand. Schwerelosigkeit. Abgrundtiefe Ohnmacht.


Die Asche der letzten Zigarette weht über den Küchentisch, während ich das Fenster aufreiße. Selbst der Regen klingt heute Nacht anders. Entrückt und unwirklich fremd prasselt er in den Innenhof. Ich fühle mich nicht zu Hause, doch der kühle Nachtwind flutet meine Lungen und lässt mich seit langem wieder das Gefühl haben, zu fühlen: Kälte in mir. Wärmende Kälte. Behäbig greife ich ein Stück zerrissenes Papier und den stumpfen Bleistift vor mir. Nach einem kurzen Blick hinaus und einem flüchtigen Gedanken an dich beginne ich zu schreiben:


'Ich bin wieder da...'

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