Donnerstag, 1. November 2012

text /// Pathos


Eine Rückkehr zum Uterus des Lebens.
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Und plötzlich stehen sie vor der Tür und kommen freudestrahlend in die Wohnung. Meine Eltern und Geschwister, alle meine Freunde seit dem Kindergarten, Arbeitskollegen, Nachbarn, Friseure und Bankberater. Alle meine Hausärztinnen und Supermarktkassierer, die Postboten und unbekannten Liebschaften, One-Night-Stands und Bettgeschichten. Sie haben Blumen und Geschenke dabei, meine besten Freunde haben gekocht und die Musik trägt Leben durch meine lichterfüllten Zimmer. Es riecht nach Äpfeln und Koriander, auf dem Balkon wird Gras geraucht und zieht in seidenen Schwaden durch die Sonnenstrahlen. Meine toten Verwandten schneiden Bleche voller Kuchen mit silbernen Messern und tunken Zuckerwürfel in schwarzen Kaffee. Es wird gelacht. 

Ein jeder erzählt Geschichten über die Vergangenheit und schon bald halten sich meine Neffen und Nichten die Bäuche, gespannt vom Zuhören und überzuckert vom herrlichen Erdbeergelée. Meine Mutter trägt eine große Platte mit Bouletten und Senf durch die Wohnung, meine Jugendfreunde trinken mit meinem Vater Bier und blicken verstohlen zwischen ihren Frauen und der Fussballübertragung hin und her. Im Esszimmer verschlingen dicke, goldbehangene Tanten Käsekuchen mit Sahnehauben und Cocktailkirschen, der Tee dampft und das Schmatzen ist bis in den Hof zu hören.

Jemand dreht die Musik lauter und der Tanz ist eröffnet. Mein Großvater tanzt mit einem der besonders hübschen Mädchen, die ich in den letzten Jahren in rauschenden Nächten vor mir her die Treppe zu meiner Wohnung hinaufführte. Hände mit Feuerzeugen und Bierflaschen ragen in die Luft und die Band auf der Bühne in meinem Wohnzimmer zerreißt die Luft mit zärtlicher Zerbrechlichkeit, spielt "To Build A Home". Ich betrete die Tanzfläche und alle klopfen mir auf die Schultern und nicken mir lachend zu. Hier und da drücken mir wunderhübsche Frauen Küsse auf die Wangen, Männer geben mir mit festem Händedruck ihre Anerkennung zu verstehen. Freunde umarmen mich und stoßen mit mir an, Freundinnen haben lachend Tränen in den Augen und wünschen mir alles Gute. Ich gehe weiter durch die Menge, und treffe auf immer mehr bekannte Gesichter und vertraute Menschen. Je tiefer ich in die Traube meiner Lebensmenschen eindringe, desto geborgener fühle ich mich Es ist wie eine Rückgeburt: ich kehre zurück in den Uterus meines Lebens, den goldenen Mittelpunkt meines Daseins, den Kaugummikern meines weltgewordenen BumBum-Eises.

Meine besten Freunde schenken mir Radiowecker und Wodkaflaschen. Sie haben auf eine fussballfeldgroße Collage die Fotos meiner letzten dreiundzwanzig Jahre geklebt. Zu jedem Foto wird in einem dreiundvierzig Bücher umfassenden Buchband eine Kurzgeschichte erzählt. Ein Dutzend ihrer Hände helfen mir auf den goldenen Zwergelefanten, der mich tiefer in die Menschenmenge trägt. Dort warten geduldig meine Eltern, meine Schwester und mein Bruder, mit großen Sonnenblumen in der Hand. Sie haben Lebensweisheiten in einer fast unendlichen Präsentation vorbereitet und meine Mutter weint vor Schreck, da sie mir so kurzfristig nicht mehr mit auf den Weg geben kann. Ich spüre die Wärme der Wände, die man nur zu Hause spürt - wo immer dies auch sein mag - während ich jeden einzelnen ein letztes Mal tief in mein Herz schließe. 

Während mein Blick durch die Menschen im Raum schweift und ich mir die gütigen und zufriedenen Gesichter ein letztes Mal anschaue, greift mein Großvater nach meiner Schulter.

"Egal was du tust, ich warte oben auf dich."
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Der Druck in meinem Kopf ist schlagartig weg. Mit einem kurzen Knacken im rechten Ohr, wie als hätte man ein Ventil gelöst, herrscht Entspannung und mir ist als würde die ganze Last aus meinem Schädel herausfließen. Die Musik verschwimmt zu einem Dröhnen und mein Kopf sinkt zufrieden auf den hölzernen Rand meines Bettes. Kurz bevor ich die Augen schließe und dem Gefühl der Schwerelosigkeit und Belanglosigkeit nachgebe, sehe ich die kleine Glasampule mit ihrer grazilen Kanüle und dem glänzenden Kolben. Am inneren Rand des Hohlgefäßes klebt noch ein Tropfen des milchig-gelblichen Gemischs aus Heroin und Thiopental. Ich schmunzle, ergebe mich dem Drang nach nichts und atme tief aus.
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Mein Großvater schmunzelt und lässt meine Schulter los. Die Sonne durchflutet den Raum, ich muss blinzeln und dennoch verschwimmen die Schatten. Dein Gesicht ist das letzte, das ich erkennen kann. Du lachst. Ich auch.






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