Freitag, 16. November 2012

text /// Eure Geschichten.


Und wenn ich so dasitze, auf euren Balkonen, dann habt ihr so verdammt viel zu erzählen.
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Und wenn ich so dasitze, in euren Wohnzimmern. Dann stelle ich mein Bier ab, blicke raus in den Garten und bemerke, wie groß doch der Apfelbaum geworden ist. Ihr habt alle so viel zu erzählen. Von den Problemen der Nachbarn, vom besten Freund in der Schule, vom letzten Telefonat mit Geschäftskunden. Kleinstadtgewäsch und ich habe Verständnis dafür. „Mir? Mir geht’s gut.“ Das freut euch.

Und wenn ich so dasitze, in euren Küchen und meinen Kaffee schlürfe und mein Blick auf die Betonfassade gegenüber fällt, die Jahr um Jahr vom Efeu berankt grüner und frühlingshafter wirkt, dann habt ihr alle unendlich viel zu erzählen. Von euren erfüllten Lieben und den kleinen Problemen, vom Stress auf der Arbeit und dem Kreativsein. Gute Gespräche über euch, die ich gerne führe. „Mir? Mir geht’s gut.“ Das wisst ihr doch.

Und wenn ich so dasitze, auf euren Balkonen und den Kopf in den Wind halte, jeden Bus zähle, der unten vorbeifährt, meine Zigarette anzünde und Zug um Zug euren Geschichten ein Nicken und eine Anekdote beisteuere, dann habt ihr so verdammt viel zu erzählen. Ihr erzählt von euren lieblosen Affären, euren brüchigen Lieben und eurem alltäglichen und essentiellen Schmerz. Es wird geweint, es wird gelacht, es wird gefloskelt. „Mir? Mir geht’s gut.“ Das ist euch klar.

Und es sind immer die guten Abende. Und es sind immer dieselben Abende. Wichtige Abende, Abende die ich nicht missen will und die von der Art sind, dass man sich lange an sie erinnert. Doch wenn ich dann durch die lauwarme Nacht nach Hause laufe, und eure Gedanken und Sorgen mit jedem Schritt ein paar Zentimeter mehr hinter mir lasse, dann fühle ich mich unaufrichtig, frei und schwerelos. Ich hänge schwerelos und unantastbar in der klaren Luft zwischen eurem Vertrauen in mich und meinem Vertrauen in niemanden. Und irgendwo zwischen diesem Vakuum hängt all das, was ich zu erzählen hätte.

Und doch habe ich nichts zu erzählen. Weil ich nicht will und weil ich nicht kann. Ich bin zu müde zum Reden. Ich bin zu müde um ehrlich zu sein. Ich bin müde, merkt ihr das?

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