Sonntag, 8. Juli 2012

text /// Im Treppenhaus.


Sie roch nach Mundwasser und Gleitgel, als sie die Wohnung verließ. Die Augenringe hinter Farbe versteckt, tiefe Furchen in ihrer jungen Stirn.
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Sie roch nach Mundwasser und Gleitgel, als sie die Wohnung verließ. Die Augenringe hinter Farbe versteckt, tiefe Furchen in ihrer jungen Stirn. Gut gezogener Lippenstift und müde, fahle Augen. Die Wangen warm und vom Rouge rosig, glitten jedoch ihre zitternden, kalten Finger am rot lackierten Treppengeländer abwärts. Ihre blonden Haare fielen aus der tief in ihr Gesicht gezogenen Kapuze wie dünne Fäden jugendlicher Leichtigkeit auf die bis zu ihrem Busen zugezogene Lederjacke. Ihre Beine tasteten sich langsam die Treppenstufen herab, Stufe für Stufe. Ihr Magen verkrampfte mit jeder Erschütterung die sie durchfuhr, wenn einer ihrer Absätze die nächste Treppenstufe fand. Im blassen Licht der goldenen Wandlampen hielt sie inne, blickte durch den geräumigen Treppengang nach oben. Hierher würde sie nie wieder zurückkehren. Nie wieder.

Ihre Gedanken drehten sich und sie hatte das Gefühl, sie könne spüren wie sich die Erde bewegt. Beständig, langsam, zuverlässig. Vielleicht war es das beste Gefühl seit langem, zu wissen, dass sich die Erde dreht – und es zu spüren. Die Schmerztabletten ließen nach. Die Krämpfe zwangen sie zu einer Pause. Erschöpft sank sie auf den Treppenabsatz. Vielleicht im dritten Stock, oder doch noch im Vierten? Angestrengt versuchte sie ihren Blick auf die Klingelschilder der altehrwürdigen, schwarzen Holztüren zu richten. Das flaue, leere Gefühl in ihrem Magen drehte sich schlagartig. Übelkeit überkam sie und ihr Blick verschwamm. Ausgelaugt versank ihr Gesicht in der Beuge ihres rechten Armes. Mit dem linken stütze sie sich am Geländer ab, hielt sitzend das Gleichgewicht. Sie tastete zu ihrer Jackentasche, ein verschmiertes Foto einer Frau, die längst aufgehört hatte sie zu kennen. Groß und blond, vor Jahren im Herbst hatte sie es geschossen. In der neuen Wohnung. Mit dem neuen Mann. Damals. Lange her.

Eine der schweren Holztüren öffnete sich. Sie nahm den Kopf hoch, doch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte fiel die Tür zurück ins Schloss. Stille, nur ihr dumpfes Atmen und der Wiederhall der Tür im weitläufigen Treppenhaus. Sie versuchte sich aufzurichten, wacklig zog sie sich am Geländer nach oben. Das Foto immer noch in der Hand und mit festem Griff am rotgeschmierten Holz versuchte sie ihren Weg fortzusetzen. Ihre Augen brannten, ihr Mund war trocken. Ihr Magen verkam zu einem Stück Beton unter ihrer zarten Haut. Tränen liefen über die feinen Züge ihrer Wangen und perlten am Hals hinunter in ihr Dekolleté. Ihr war kalt. Zu lange hatte sie es hingenommen, zu lange hatte sie gewartet und nichts getan. Nun ist alles getan, nun ist sie sicher. Ihre klebrigen Hände verloren den Halt. Benommen taumelte sie die Stufen entlang, trat ins Leere und fiel auf den harten Steinboden. Schmerzen durchzogen ihren Körper. Was hatte er ihr nur angetan. Ihre Handgelenke waren Wund, ihre Hände blutig. Die Fingernägel abgestumpft und schwarz verkrustet. Um sie herum dicker Nebel.

Plötzlich hörte sie Stimmen im Treppenhaus. Sie erinnerte sich noch an die Frau. Sie liebte diese Frau. Auch als er ihr den ersten Schuss setzte. Sie liebte diese Frau auch, als sie benommen im Bett lag, während er ihre Tochter schlug, von Alkohol und Heroin völlig umhüllt. Sie liebte diese Frau, als sie abends nicht mehr nach Hause kam und kein Abendessen im Kühlschrank war und er ihr Paracetamol und Wodka zum Einschlafen gab, sie im Rausch gegen den Küchenboden presste und sie für die Taten dieser Frau verantwortlich machte und in sie kam. Von diesem Abend an, jeden Abend. Und sie liebte diese Frau, als er ihr den letzten Schuss setzte.

Die Stimmen wurden lauter. Sie vermochte es nicht sich aufzusetzen. Ihr ganzer Körper zitterte. Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Bilder aus seiner Wohnung, in die sie nun nie wieder zurückmusste. Bilder von ihm, wie er nun auf dem Bett lag, in welchem er sie so oft festgebunden und ihr unter Schlägen und Drohungen seinen Schwanz zwischen die Beine gedrückt hatte. Bilder von ihm, mit weit aufgerissenen Augen und blasser Haut, die Spritze noch im rechten Arm und die linke Hand auf der klaffenden Wunde in seiner Brust. Sein Penis blutrot und verkümmert neben ihm. Regungslos und unfähig ihre Schreie und Flüche, ihre benommen gemurmelten Wortfetzen noch wahrnehmen zu können. Sie hatte zurückgeschlagen. Tödlich.

Sie spürte ihren Puls im Kopf stärker werden. Ein Pochen und Beben erfüllte ihren ganzen Körper. Ihre Augen erfassten dicke schwarze Schuhe und eine rote Jacke. Der Mann vor ihr legte eilig seinen Koffer ab, die verwaschenen Bilder rotierten in ihrem Kopf. Ihr Mund schmeckte nach Eisen und füllte sich mit Flüssigkeit. Sie bemerkte Berührungen, Worte – war jedoch unfähig zu antworten. Wie wabernde Echos drang eine Stimme zu ihr.

„Sie ist doch erst 13, das arme Kind.“

Ihre Augen verloren den Halt, in ihrem Kopf wich das Pochen einem surrenden Schmerz und sie lockerte ihre verkrampften Muskeln. Alles Gute zum Muttertag, Mama – und sie atmete aus.

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