Sonntag, 8. Juli 2012

text /// Großvater am Meer.


Ein weiterer pathetischer Text über Liebe.
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Da steht er, am Strand. Barfuss, die Zehen in den lauwarmen Atlantiksand gepresst. Starr vor Ehrfurcht blickt er auf die weite See und blinzelt. Seine Brille liegt ein Dutzend Meter entfernt auf der Decke. So sieht er die kleinen Punkte am Horizont nicht, die großen Ozeanriesen kilometerweit entfernt. Und da er sie nicht sieht, wirkt das blaue Monstrum vor ihm noch gewaltiger. In der linken Hand hält er ihr Foto.

Sein Tuch flattert in Richtung Stadt, sein dünnes, hellblaues Shirt drückt sich gegen die Konturen seines Oberkörpers. Gezeichnet von der Zeit und einem guten Leben, wölbt sich sein Bauch hervor und offenbart eine über die Jahre entwickelte Leidenschaft für Biergenuss. Ansonsten scheint er gut in Form zu sein. Seine Haare sind freilich dünner, seine Augen müder als vor Jahren. Falten ziehen sich durch sein Gesicht und über die Hände. Ein wenig krumm vom langen Arbeitsleben ist er. Und dennoch strahlt er Wärme aus, wie ein rundlicher Kachelofen, dessen Feuer mit Erinnerungen geschürt wird. Guten und schlechten, denn das macht ein Leben aus. Und seines umso mehr.

Er wirkt nicht alt, nicht gebrechlich. Er steht am Strand und trotzt dem Wind, blickt ihm und dem blauen Atlantik ins Gesicht als wolle er sagen: Ich bleibe. Ich bleibe noch. Er ist ein starker Mann. Das war er immer.

Noch vor wenigen Jahren standen sie zu zweit hier, Arm in Arm. Ein eng umschlungenes Gebilde aus Mann und Frau, und Falten und gemeinsamen Erinnerungen, Sorgen, Krankheit und Leben. Fünfzig Jahre gemeinsam leben. Viele werden keine fünfzig, denkt er.

Er wirft einen Blick auf das vertraute Foto, obwohl er es natürlich Millimeter für Millimeter beschreiben könnte. Zu oft hat er es sich angesehen in den letzten zwei Jahren.

Sie, in einem blauen Kleid mit Blumen im Haar und weißem Silberschmuck strahlt an der Seite von ihm, ihrem Mann, und ist für ihn immernoch die schönste Frau der Welt in diesem Moment. Es war ein goldener Sommertag im Harz, an dem sie sich nach fünfzig Jahren erneut die Liebe schworen. An dem Ort wo ihre Liebe begann.

Es war ein regnerischer Tag im März, an dem sie sich ein halbes Jahr später zum letzten Mal in die Augen blickten. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn noch wahrnahm. Doch so wie er am Strand steht, in die Ferne blinzelt und weiß, dass auf dem Wasser Schiffe fahren, so wusste sie, dass er da war. Immer. Auch an jenem Ort, wo ihr Leben endete.

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