Mittwoch, 1. August 2012

text /// Der Zuhörer. Passiv.


Ich höre sie über mir. Sie schreit. Sie stampft.
Sie schnaubt. Sie diskutiert. Sie wirft mit den schlimmsten Beleidigungen um sich. Wenn ich sie so höre, denk ich an nichts Gutes.

Ihn höre ich auch. Er stottert. Er schreit, aber leiser. Er knallt die Tür- ist doch eigentlich ihre Aufgabe. Er verneint und bejaht, spricht seine Sätze nicht zu Ende und wird dauernd unterbrochen. Wenn ich ihn so höre, tut er mir Leid. Darauf bin ich nicht neidisch.

Ich will nicht mit ihm tauschen.

Ihre dunklen, langen Locken fallen schimmernd auf ihre Schultern. Seitdem sie vor einigen Wochen bei mir geklingelt hatte um nach einem Föhn zu fragen, da ihrer gerade durchgebrannt war, weiß ich, dass sie braune Augen hat. Ein freundliches Lächeln mit angenehmer Stimme, ganz und gar nicht so, wie ich es von ihren Streitgesprächen dachte zu kennen - grell, schrill, hoch, überschlagend schnell. Für eine Frau ist sie groß, sicher irgendetwas in den Siebzigern. Gute Kusshöhe. Trotzdem, hübsch? Über Geschmack lässt sich streiten. Sie hat etwas hübsches, mich reizt es dennoch nicht. Genau wie ihr Freund.

Er ist ein schmaler, drahtiger Typ. Lange, nach hinten gelegte Haare, Hundeblick. Das passt irgendwie nicht zusammen, manchmal sieht er aus wie eine Karikatur von sich selbst. Wäre ich eine Frau, ich würde ihn mir nicht im Club rauspicken. Jedenfalls nicht vom Aussehen. Er hat etwas rattenhaftes für mich. Darauf bin ich nicht neidisch. Ich will nicht mit ihm tauschen.

Nachmittags, wenn sie nicht da ist, dreht er auf. Seine Boxen müssen, ja sie müssen auf dem Boden liegen - ich höre jeden Ton, jede Nuance, die sich aus den Lautsprechern quetscht. Manchmal ist es, als stünde die Anlage neben mir. Er hört Musik. Nein - er hört Mist. Er hört Mist. Billigen Rummel-Techno gepaart mit Ballermann-Hits und noch neuerer Neuer Deutscher Welle. Ich verfluche mich selbst, da ich mittlerweile schon wenigstens die Hälfte der Lieder mitsinge, mit-musiziere oder sonstige spastische Bewegung an unpassenden Stellen ausführe. Es ist grauenhaft. Auf seinen Musikgeschmack bin ich nicht neidisch.
Ich will nicht mit ihm tauschen.

Sie arbeitet lange. Kommt abends nach Hause. Dann wird gestritten - oder geritten. Beim Sex hört sie sich an wie ein alter Keilriemen, ständig mehr oder weniger zu hören, auch bei den kleinsten Bewegungen. Ab und an ohrenbetäubend laut. Da wird einem angst und bange. Das hat mit lautem Sex nicht zu tun. Das ist nicht attraktiv, das ist weder erotisch noch anziehend. Dieses Geschrei ist abstoßend. Darauf bin ich nicht neidisch. Ich will nicht mit ihm tauschen.

Wenn ich das Pärchen im Treppenhaus sehe, ist von all dem nichts mehr zu spüren oder zu sehen. Sie gehen Hand in Hand, freuen sich, necken sich, küssen sich - kurz: sind glücklich. Am Wochenende sitzen sie unten im Café, trinken heiße Schokolade und essen Kirschkuchen. Ab und an treffe ich sie im Supermarkt an der Ecke, wie sie zusammen einkaufen. Gestern saßen sie im Hof und grillten. Durchs offene Fenster hörte ich Gespräche über anstehende Familienfeste, neue Badezimmermöbel, die letzte Handyrechnung von ihr und den geplanten Kauf eines großen Fernsehers von ihm.

Die zwei führen eine langweilige Beziehung, mit alltäglichen Höhen und Tiefen. Sie schlafen zusammen ein, wachen zusammen auf. Verbringen Zeit zu zweit und allein - wenn sich das ergibt. Sie reden, fluchen, kochen, schlafen, spazieren, feiern, träumen, diskutieren, sitzen, streiten und leben miteinander. Mit allen üblen Facetten, Streitereien und Problemen.

Das ist etwas, worauf ich neidisch bin. Ich will mit ihm tauschen.

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